Nahezu wöchentlich berichten Publikumsmedien über brisante Erkenntnisse, die vor allem mit unserem stillsitzenden Lebens- und Arbeitsstil zu tun haben. Der zunehmende Bewegungsmangel gilt inzwischen als Ursache Nr. 1 für fast alle Zivilisationskrankheiten. Nachdem in den letzten Jahrzehnten Gebäude, Prozesse und Einrichtungen vor allem auf Bequemlichkeit ausgelegt wurden und Flächenreduktion und -verdichtung zum Maß aller Dinge wurden, ist jetzt ein Umdenken gefordert: Nicht noch mehr Entlastung, sondern im Gegenteil mehr Bewegung ist das neue Gebot für die Konzeption und Planung gesunder Büroarbeitswelten.
Da werden seit Jahrzehnten die Gebäudekonzepte und die Büroprozesse optimiert, um die körperlichen Belastungen zu reduzieren. Mit Erfolg: Kurze Wege, Barrierefreiheit, Aufzüge und Rolltreppen kennzeichnen die Bewegungen durch die Gebäude, „Cockpitorganisation“, korsettähnliche Bürostühle und ein zweidimensionaler Desktop, durch den man per Mouse-Click navigiert, bestimmen den Bewegungsraum am Arbeitsplatz. Statt Akten wälzen, Ordner schleppen, Post- und Botengängen ist nur noch die Bewegung der Finger gefordert, um die Büroarbeit zu bewältigen. Und das Ergebnis? Die Menschen im Büro werden immer kränker! Angesichts von Fachkräftemangel und demografischem Wandel wird die Mitarbeitergesundheit immer mehr zum Flaschenhals der Unternehmensentwicklung. Ist es da nicht höchste Zeit, die bisherigen Grundlagen der Arbeitsweltplanung und -gestaltung kritisch zu hinterfragen?
Fatale Symbiose aus Bequemlichkeit, Technologie und geläufigem Effizienzverständnis
Die neuen Erkenntnisse aus der Gesundheitsforschung unterstreichen die vitale Bedeutung von physischer Aktivität für die biologischen Stoffwechselprozesse. Weil aber Kalorienknappheit in der Evolution der Normalfall ist, bewegt man sich nur, wenn es unbedingt sein muss. Das erklärt die vorherrschende Bewegungsfaulheit, die durch den technologischen Fortschritt zum komatösen Bewegungsmangel geworden ist: Gebäudeautomation und passive Mobilität ebenso wie Computer, Laptop, Tablet, Smartphone und Co. maximieren Erreichbarkeit (und mentale Dauerbelastung) und minimieren gleichzeitig den Bewegungsraum, der zu ihrer Bedienung erforderlich ist. In einer fatalen Symbiose dazu verbannen viele „Lean“-Konzepte Bewegungen und Wegstrecken als „nicht produktiv“ aus Prozessen und Gebäuden.
Bewegungsmangel fördert physiologische und psychologische Destabilisierung
Das Zentrum für Gesundheit an der Deutschen Sporthochschule Köln geht davon aus, dass inzwischen über 80 Prozent der Rückenschmerzen nicht durch Überlastung sondern durch körperliche Unterforderung verursacht sind. Die Muskulatur bildet sich zurück und der gesamte Skelett- und Gelenkapparat wird destabilisiert. Stressforscher sehen in der mentalen Überlastung bei gleichzeitiger körperlicher Unterforderung sogar eine besonders kritische Kombination: Bei Stress werden Hormone und Neurotransmitter ausgeschüttet, die den Organismus in Alarmbereitschaft und die Muskulatur unter Spannung setzen. Wird diese Disposition nicht in Bewegung umgesetzt, kommt es zu dauerhaften Schädigungen des Stoffwechselsystems bis hin zu depressiven Störungen und Burnout-Syndrom. Die Förderung körperlicher Aktivität durch entsprechend gestaltete Raumprogramme, Erschließungszonen und Zuwegungen hat dadurch direkte, positive Auswirkungen auf Mitarbeitergesundheit und betriebliche Performance.
Bewegungs- statt Haltungsorientierung
Vor allem die einseitige Haltungsorientierung in der Ergonomie erweist sich als Sackgasse. Dass beispielsweise die aufrechte Sitzhaltung „richtig“ sei, hat wenig mit Gesundheit aber viel mit sozialen Konventionen zu tun, etwa um Respekt zu signalisieren oder Disziplin und Kontrolle zu erleichtern. Biologisch betrachtet ist jede Sitzhaltung, die der Körper schmerzfrei einnehmen kann, richtig und wichtig, um Gelenkfunktionen und Muskulatur zu stimulieren. Auch die Behauptung, dass sich nur konzentrieren kann, wer sich nicht bewegt, ist längst widerlegt. Hier setzen neuartige Sitzkonzepte an, die häufige und vielfältige Bewegungen fördern. Das Zentrum für Gesundheit hat deren Auswirkungen auf Gesundheit und Leistungsfähigkeit in zwei Studien (2009, 2011) am Beispiel des Bürostuhls ON von Wilkhahn genau untersucht. Die Ergebnisse der vergleichenden Feldstudie sind eindeutig: Die Gruppe auf dreidimensional beweglichen Bürostühlen hatte bereits nach drei Monaten ihre Konzentrationsleistung deutlich gegenüber der Kontrollgruppe gesteigert – auch ihr subjektives Wohlbefinden verbesserte sich signifikant. Die Studien zeigen auch, dass bereits kleine Veränderungen große Wirkungen bei der Verbesserung der Stoffwechselrate zeitigen.
Integration statt Kompensation: Die Bürowelt zum Bewegungsraum machen!
Unternehmen investieren oft viel Geld im „Betrieblichen Gesundheitsmanagement“, um Mitarbeiter zu mehr Bewegung zu animieren – mit oft frustrierenden Ergebnissen. Ist es deshalb nicht viel naheliegender und wirtschaftlicher, die Bewegung wieder in die Räume und in die Prozesse zurückzubringen, als zu versuchen, die Versäumnisse außerhalb der Arbeitszeit zu kompensieren? Das beginnt bei mehr Bewegung am Schreibtisch, führt über Besprechungen im Stehen und körperliche Aktivierung bei Workshops und Seminaren bis zur bewussten Wegeverlängerung oder zur beschränkten Aufzugsnutzung. Neue Bürokonzepte stellen deshalb nicht mehr den festen Arbeitsplatz sondern den Umgebungswechsel in den Mittelpunkt: Denkerzelle, Meetingraum, Lounge, Café, Bibliothek, Projektbüro, Pausenzonen …
Entzerrung statt Verdichtung, Anreicherung statt Reduktion, Stimulation statt Restriktion, Begegnung statt Trennung – das sind die neuen Leitbegriffe für die Gestaltung gesunder Arbeitswelten. Ob mit Treppen, Stegen, Plätzen, abwechslungsreichen „Landschaften“ oder gezielter Lichtlenkung – im Verständnis von Gebäuden als Bewegungsräumen liegt einer der wichtigsten Schlüssel für gesunde, motivierende und leistungserhaltende Bürokonzepte!